Tuberkulosebekämpfung durch Röntgenreihenuntersuchung und „Strahlenkastration“ als Methode negativer Eugenik: Im nationalsozialistischen Deutschland waren Strahlentherapeuten und Radiologen Teil verbrecherischer Aktionen. Mit der Ausstellung „Radiologie im Nationalsozialismus“ arbeiten die Deutsche Röntgengesellschaft (DRG) und die Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO) ihre NS-Geschichte auf, dokumentieren den verbrecherischen Einsatz der Röntgenstrahlen, zeichnen Biografien verfolgter und ermordeter Röntgenärzte und exemplarisch die Lebenswege einzelner Täter nach. Vom 28. 7. bis 13. 9. 2016 ist die Ausstellung in der Neuen Aula der Universität Tübingen zu sehen. Prof. Vorwerk, Präsident der DRG: „Es war einhellige Meinung der Mitglieder der Geschichtskommission beider Fachgesellschaften, dass mit der Fachartikelreihe und der Ausstellung von Frau Dr. Moser erst der Anfang gemacht sein kann.“ In Tübingen wird parallel zur Ausstellung deshalb ein Symposium mit internationalen Historikern durchgeführt, die die Fachgeschichte mit interessierten Medizinern vertiefen.
Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 5. Dezember 1933 schuf die „rechtliche“ Grundlage für Verbrechen an insgesamt etwa 360 000 Menschen, die in den zwölf Jahren der Nazi-Diktatur unfruchtbar gemacht wurden. Die Deutsche Röntgengesellschaft (DRG) war für die Machthaber die beratende Fachgesellschaft für alternative Methoden zu operativen Eingriffen. Insgesamt waren 150 Strahlenmediziner zu dieser Behandlung ermächtigt, die Hälfte war Mitglied der DRG. Von den insgesamt circa 360 000 Zwangssterilisierten sind etwa zwei Prozent durch Strahlenbehandlung unfruchtbar gemacht worden. „Trotz gesetzlichen Rahmens, der bis zu Qualitätssicherungsmaßnahmen und einer lukrativen Entlohnung reichte, wurde hier medizinisch Unrecht verübt“, so Prof. Debus, Präsident der DEGRO.
Zusätzlich waren führende Radiologen an Reihenuntersuchungen mit Thorax-Röntgenaufnahmen zur Erkennung von Tuberkulose beteiligt. Ein „motorisierter Röntgenzug“ unter der Bezeichnung „Röntgensturmbann SS-Hauptamt“ folgte den deutschen Eroberern gen Osten, geleitet vom Frankfurter Strahlenmediziner und SS-Standartenführer Professor Hans Holfelder. Diskutiert wurde die Ermordung von 35 000 tuberkulosekranken Polen, die als Ansteckungsgefahr für umgesiedelte Deutsche galten.
Das Projekt umfasst auch die Erarbeitung von Biographien verfolgter radiologisch tätiger Ärzte. 1938 wurde allen „nicht-arischen“ Ärzten die Approbation entzogen, somit wurden 160 Ärzte auch aus der DRG ausgeschlossen. Unter ihnen war auch Leopold Freund, der 1897 in Wien die erste Strahlentherapie am Menschen durchgeführt hat. 1938 verlor er seine Stelle in Wien und starb wenige Jahre später im Exil.
Die 24 Schautafeln und Medienstationen umfassende Ausstellung, die unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. phil. Gabriele Moser entstand, resultiert aus einem zweijährigen Forschungsprojekt der Heidelberger Historikerin, das 2010 von der DRG in Auftrag gegeben wurde und dem sich seit 2012 auch die DEGRO angeschlossen hat. Erstmals war die Ausstellung auf dem Röntgenkongress in Hamburg 2014 gezeigt worden. Tübingen ist der neunte Standort, an dem die Ausstellung gezeigt wird. Das Museum der Universität Tübingen MUT betreute die Aufstellung fachlich. MUT-Direktor Ernst Seidl: „Die Ausstellung erweitert das MUT-Jahresthema 2015 zum Nationalsozialismus an der Universität Tübingen um einen enorm relevanten Fall.“ Die Israelische Radiologie-Vereinigung zeigt eine hebräische Fassung der Ausstellung ebenfalls an verschiedenen Standorten in Israel.